Ich wollte normal sein

„Ich weiß gar nicht, wie das jemand schaffen würde, der alleine lebt“, bekennt Annika Hagen.

Hinter der 25-jährigen Hörakustikerin liegen Monate voll emotionaler Berg- und Talfahrten, voller Sorgen und Zweifel. Aber auch: Monate, die ihr gezeigt haben, wie sehr sie sich auf ihre Eltern, auf ihren Verlobten Andre und auf eine gute Freundin verlassen kann. Heute ist sie froh über die Entscheidung, die sie getroffen hat: Im August 2018 hat sie sich als Skoliose-Patientin operieren lassen. Vom Eingriff sind 15 Wirbelkörper betroffen.

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„Eine Skoliose ist bei mir schon festgestellt worden, als ich 13 war“, erzählt die junge Frau. Beschwerden hatte sie damals nicht. Bei einer Standarduntersuchung stellte der Hausarzt fest, dass ihre Wirbelsäule krumm war und schickte sie weiter zum Orthopäden. Ohne eine Röntgenuntersuchung diagnostizierte dieser: Behandlungsbedarf bestehe nicht, aber Sport solle sie machen. „Das fiel mir nicht schwer. Ich war sowieso sportlich, habe Badminton und Fußball gespielt und viele Sportarten mal ausprobiert“, erinnert sie sich. Von der Skoliose wollte sie als Kind nichts wissen: „Ich wollte normal sein.“

Als dann mit 14 ein Wachstumsschub kam, änderte sich die Situation schlagartig. Sie bekam Rückenschmerzen, gegen die nichts zu helfen schien. Mit den Orthopäden, die sie um Rat fragte, machte sie schlechte Erfahrungen, berichtet Annika Hagen. „Einer sagte, ich solle viel schwimmen. Ein anderer meinte, Sport sei gut, aber Schwimmen auf keinen Fall. Ein dritter sagte, ich könnte gern schwimmen, aber nur rückenschwimmen. Es war sehr verwirrend.“

Ein Korsett, das ihr verordnet wurde, machte die Lage alles andere als entspannter. „Es war dick, riesig, tat weh und man sah es unter der Kleidung. Mir war das peinlich vor anderen. Ich habe es höchstens mal getragen, wenn ich abends alleine zu Hause war“, verrät sie. Ein Jahr später, als sie zur Reha nach Bad Sobernheim fuhr, stellte man dort fest, dass ihr das Korsett gar nicht richtig passte. Sie erhielt ein neues, leichteres, das sich viel besser trug. Die Schülerin konnte damit wesentlich besser umgehen. Trotzdem entschied sie sich irgendwann dafür, ihr Korsett an den Nagel zu hängen und alles auf sich beruhen zu lassen. Gegen die Rückenschmerzen schien es keine Hilfe zu geben, und so akzeptierte die Jugendliche diese schließlich als einen Teil ihres Alltags. „Für mich sind sie einfach immer dagewesen“, sagt sie achselzuckend.

Erst, als 2017 die Schmerzen unerträglich wurden, beschäftigte sie sich erneut aktiv mit ihrer Skoliose. Der erste Schritt war Kraftsport, zur Stärkung der Rückenmuskulatur. Sie trainierte an einem Gerät, das speziell bei Skoliose helfen sollte – doch die Beschwerden wurden nur noch schlimmer. Anfang 2018 stieß sie durch eine Recherche im Internet auf das Deutsche Skoliose Netzwerk (DSN). Für sie ein guter Tag, mit dem eine positive Entwicklung begann: „Ich wurde eine Stunde lang am Telefon beraten, obwohl ich ganz spontan angerufen hatte“, schildert sie. Das DSN gab ihr Adressen von Wirbelsäulenspezialisten. Annika Hagen entschied sich für das Sana Dreifaltigkeits-Krankenhaus in Köln und nahm dort eine erste Beratung war. Dr. Biren Desai riet ihr zu einer Operation: Die Wirbelsäule war inzwischen oben in einem Winkel von 49 Grad, unten um 55 Grad gekrümmt. Ein Fortschreiten der Verformung war anzunehmen, und auch das Risiko von weiteren Schäden stand im Raum.

Es folgte eine harte Zeit für Annika Hagen und ihren Verlobten Andre Ax. Beide hatten Angst, dass die Operation im schlimmsten Fall zur Querschnittslähmung führen könne. Andererseits sah Annika für sich keine Alternative. Beide lasen daraufhin viel im Internet. „Ich habe viele Berichte von Leuten gelesen, die bei Dr. Desai operiert wurden und sich positiv geäußert haben. Das hat mich beruhigt“, so Andre Ax. Annika hatte durch das Sana-Krankenhaus Kontakt zu anderen Patienten bekommen, die ihre Fragen aus eigener Erfahrung beantworten konnten. Wobei braucht man nach der Operation Hilfe? Was geht, was geht nicht? Das waren Dinge, die sie wissen wollte, bevor sie sich zu diesem großen Schritt entschied. „Alle sagten, dass die Schmerzen nach der Operation groß seien, aber dass sie sich jederzeit wieder dafür entscheiden würden“, erinnert sich die junge Patientin. Sie beriet sich auch mit einer befreundeten Kollegin und war begeistert davon, wie ernsthaft sich diese ihren Sorgen widmete. „Sie hat sofort online dazu recherchiert. Das fand ich total süß von ihr! Andere, mit denen ich später gesprochen habe, haben nur gesagt: Das wird schon! Das tat weh, wenn manche das so auf die leichte Schulter nahmen“, berichtet die Skoliose-Patientin.

An den Tag, als seine zukünftige Frau operiert wurde, erinnert Andre Ax sich noch gut. „Ihre Mutter begleitete sie in die Klinik. Ich war in Siegen geblieben und kam dann mit ihrem Vater nach. Das Schlimmste waren die Stunden, als wir noch nicht wussten, wie alles gelaufen war. Wir trafen uns dann in Köln mit Annikas Mutter, und sie erhielt schließlich den Anruf von Dr. Desai. Während sie mit ihm sprach, machte sie zu uns den Daumen nach oben“, erinnert er sich: „Aber wir wussten zunächst nur, dass die Nerven nicht beschädigt waren – nicht, ob sie sich wirklich würde bewegen können. Dafür mussten wir noch eine weitere Untersuchung abwarten. Aber als es dann hieß: Es geht ihr gut, sie kann alles bewegen – da ist eine riesige Last von mir abgefallen“, beschreibt der junge Mann.

Die Wochen nach der Operation waren für beide anstrengend. Ax nahm sich Urlaub, um jeden Tag bei seiner Verlobten in der Klinik sein zu können. Hier stand zunächst ein mühsamer Prozess an, bei dem es zunächst buchstäblich nur in kleinen Schritten vorwärts ging. „Es war schon eine große Sache, als ich irgendwann mit dem Rollator bis vor die Tür kam. Am neunten Tag hatte ich ein richtiges Tief und dachte nur: Ich kann nicht mehr! Ich kann wirklich nicht mehr! Aber einen Tag später sagte mir Dr. Desai, dass er mich entlassen könne, und da konnte ich gar nicht mehr aufhören zu strahlen“, beschreibt Annika Hagen das Wechselbad ihrer Gefühle. Wenn sie etwas vom Boden aufheben oder von oben aus einem Schrank holen wollte, brauchte sie dabei wochenlang Hilfe. Lange hatte sie noch Schmerzen beim Sitzen und verbrachte einen großen Teil des Tages liegend auf dem Sofa. Aber jeden Tag ging es etwas besser. Die Entscheidung für die Operation war auf jeden Fall richtig, da ist sie sich sicher.

Interview & Text: Johanna Tüntsch